Ippen stoppt Veröffentlichung bei "Bild"-Chef: Journalistenverband empört

2021-11-29 09:14:21 By : Ms. Windsor Li

Aufschrei in der Journalistenwelt: Die Ippen Investigative-Redaktion recherchierte monatelang über mögliches Fehlverhalten des "Bild"-Chefredakteurs Julian Reichelt - und kurz vor der Veröffentlichung stellte der Großverlag Ippen die Veröffentlichung ein. In dem Bericht, der am Sonntagabend auf allen Portalen der Verlagsgruppe Ippen erscheinen sollte – darunter die „Frankfurter Rundschau“ und das Online-Portal „Buzzfeed“ – wollten die Journalisten neue Details zu Reichelts angeblichem Machtmissbrauch veröffentlichen.

Aber so weit kam es nicht. Laut einem öffentlichen Schreiben des Forschers hat der Mehrheitsaktionär Dirk Ippen (81) die Veröffentlichung offenbar verhindert. Das Veto des Herausgebers wurde nicht begründet.

Nach Angaben der Journalisten wurde die Recherche zudem monatelang von Rechtsberatern begleitet. „Wir haben nach allen Maßstäben der investigativen Recherche gearbeitet und neue und exklusive Informationen recherchiert, die wasserdicht, für die Veröffentlichung geeignet sind“, heißt es in dem Schreiben der investigativen Redaktion.

🔥Der Protestbrief der @i_investigativ-Redaktion 🔥 pic.twitter.com/S69Iaz5XYl

Obwohl die Recherche nicht veröffentlicht wurde, reagierte der Medienkonzern Axel Springer auf die neuen Vorwürfe und entließ "Bild"-Chef Reichelt am Montag von seinen Aufgaben. In einer Pressemitteilung heißt es:

In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage der Pressefreiheit, die in Art. 5 GG verankert ist:

Wie frei ist die freie Presse wirklich? Wo gibt es Abhängigkeiten? Wer beeinflusst?

Es ist kein Geheimnis, dass bestimmte Themen in bestimmten Medien nicht behandelt werden. Bestimmten Zeitungstiteln werden oft bestimmte politische Richtungen zugewiesen. Dies wird hauptsächlich in der Kommentarspalte angezeigt. Aber auch die Themenwahl, die Art der Berichterstattung oder die Gewichtung der Themen lassen oft politische Ansichten durchscheinen.

Private, also nicht öffentlich-rechtliche Medienanbieter können sich nicht nur auf Einnahmen aus Abonnements verlassen. Sie sind auf das Werbegeschäft angewiesen. Verlage und Werbung machen sich möglicherweise Sorgen, potenzielle Kunden durch negative Berichterstattung abzuschrecken.

Journalisten sollten sich jedoch gemäß Pressekodex wie Medienunternehmen verhalten. Ein selbst auferlegtes Regelwerk, sozusagen eine Sammlung journalistisch-ethischer Grundregeln. Auch hier ist das Prinzip der Trennung von Verlag und Redaktion verankert.

Wie frei sind die Medien in Deutschland wirklich? Watson fragte den Chef des Deutschen Journalistenverbandes (DJV), Frank Überall.

Und er sagt, man müsse die Frage der freien Presse differenziert betrachten. „Natürlich gibt es Medienunternehmen, sogenannte Trendunternehmen“, sagt er. „Wenn ich für die ‚taz‘ schreibe, weiß ich, was mich erwartet. Wenn ich für die ‚FAZ‘ schreibe, weiß ich auch, was mich erwartet. Das sind unterschiedliche Grundhaltungen und Grundüberzeugungen, die zumindest in der Kommentar."

Dies sollte jedoch grundlegende berufliche Standards nicht in Frage stellen. Überall bedeutet auch die Trennung zwischen Anzeigen- und Redaktionsabteilungen. "Man sollte auf große Lebensmitteldiscounter keine Rücksicht nehmen und zum Beispiel nicht mehr recherchieren." Der Kern des Journalismus ist Glaubwürdigkeit – eine Einflussnahme durch die Anzeigenabteilung oder den Verlag würde diese ernsthaft gefährden. "Das ist das Wichtigste, was wir als Journalisten zu bieten haben: eine glaubwürdige Berichterstattung."

Auch die Journalistengewerkschaft veröffentlichte auf Twitter eine Stellungnahme zur aktuellen Debatte:

Was ist los bei der Ippen-Gruppe? Laut @nytimes und @uebermedien hat Herausgeber Dirk #Ippen @i_investigativ daran gehindert, über #Springer zu berichten. „Das zerstört Vertrauen und schadet der Redaktion“, kritisierte @ueberalltv. #Reichelt PM: https://t.co/o61XXMYtJl pic.twitter.com/9aoBbesTr3

Alle seien "sehr schockiert" über das Verhalten von Dirk Ippen gewesen. „Das geht gar nicht“, sagt er. Und warum? Hätte es bei dieser Recherche tatsächlich rechtliche Bedenken gegeben, wäre ein Einspruch angebracht gewesen, also überall. Aber nur, wenn es einen Blick gab: Wie berichten Sie zu diesem Thema? Musst du an einem bestimmten Punkt nochmal recherchieren? "Dass die Frage ob überhaupt gestellt wird - das finde ich extrem problematisch."

Ein Unternehmenssprecher der Verlagsgruppe Ippen bestätigte, dass es zumindest keine rechtlichen Bedenken gebe. "Dadurch leidet die Reputation der einschlägigen Medien im Unternehmen. Das dürfte aber auch dem Journalismus insgesamt schaden", sagt Gewerkschaftschef überall.

Dass in die redaktionelle Berichterstattung in diesem Maße eingegriffen wird, sei nach Ansicht des Gewerkschaftschefs ein Einzelfall. Das sieht man nur daran, dass es aktuell eine solche Empörung über diesen Fall gibt. Aber er sagt auch: „Ich bin sehr froh, dass ich freiberuflicher Journalist bin, also als Freelancer für verschiedene Redaktionen arbeite. Und natürlich habe ich immer Redaktionen, die Themen aus irgendeinem Grund oder ohne Begründung ablehnen bieten sie woanders an."

DJV-Chef Frank Überall betont im Watson-Gespräch noch einmal den Mut der Ippen-Journalisten:

Dieses Prinzip der Trennung der Gewinnerzielungsabsicht vom journalistischen Geschäft ist elementar. "Sonst handelt es sich um eine Werbebroschüre. Wenn man nur freundlich über die Inserenten berichtet, hat das mit Glaubwürdigkeit nicht mehr viel zu tun."

Offensichtlich gibt es viele Gelegenheiten, zum Beispiel über Unternehmen positiv zu berichten. Aber: "Wir sind alle Menschen und machen auch Fehler. Das gilt auch für Unternehmen und das gilt auch für Behörden." Wie die Medien letztlich über den Anzeigenverkauf unter Druck gesetzt werden können, zeigt sich auch in Österreich und der Türkei, „wo überhaupt nur Medien, die rechtskonform berichten, Werbung bekommen“.

Überall liege die Verantwortung nicht nur bei den Medien selbst: "Es liegt auch in der Verantwortung der Unternehmen und Behörden, sie nicht als Erpressungsmittel einzusetzen." Verlage und Sender haben aber auch die Verantwortung, sich entsprechend zu wehren "und dann auch zu sagen: 'Wir verzichten notfalls lieber auf eine Anzeige'". In Zeiten, in denen es mit der Refinanzierung journalistischer Produkte nicht gut läuft, sei auch dies „eine enorme Herausforderung“.

Gleichzeitig müsse im Zusammenhang mit diesem Vorfall im Fokus stehen, dass „wir eine Vielzahl von Medien brauchen“. "Das haben wir in vielen Kreisen der Republik nicht mehr." Dass es vielerorts keine redaktionelle Konkurrenz mehr gebe, nur noch eine Lokalzeitung sei vorhanden – „das halte ich für eine sehr schwierige Entwicklung“.

Misstrauen gegenüber dem Journalismus, Ausdrücke wie "Medien in Linie" - das wird nicht nur in rechten Lagern heiß diskutiert. Auch Intellektuelle und Politiker kritisieren die immer geringer werdende Vielfalt in der Medienlandschaft. Der heutige Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier äußerte sich 2014 zu diesem Thema wie folgt:

Eine Mehrheit der Deutschen würde es positiv bewerten, wenn der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach das Gesundheitsministerium in der neuen Regierung übernimmt. In einer repräsentativen Umfrage des Meinungsforschungsunternehmens Civey im Auftrag von watson gaben 59 Prozent der Befragten an, einen Gesundheitsminister in Lauterbach positiv zu sehen. Rund ein Drittel (33 Prozent) würde Lauterbach auf dem Ministerposten negativ bewerten.