Outdoor-Pionier: Wie Ortlieb aus Käufern Fans macht ›absatzwirtschaft

2021-11-29 09:14:30 By : Ms. Helen Wong

Ortlieb hat vor fast 40 Jahren die wasserdichte Fahrradtasche erfunden – und fertigt sie zu 100 Prozent in Deutschland. Auch der Pionier für Outdoor-Zubehör trotzt Amazon souverän. Mit Martin Esslinger als neuem Geschäftsführer wurde Anfang 2021 ein Generationswechsel eingeleitet – und alles wird anders bleiben.

Als die MS Ever Given am Morgen des 23. März im Suezkanal stecken blieb und Europas wichtigsten Seeweg nach Asien sechs Tage lang blockierte, konnte Martin Esslinger Ruhe bewahren. Auf Nachschub aus Fernost wartet der Geschäftsführer der Kulttaschenmarke Ortlieb selten.

„Wir konnten die Produktion fortsetzen, weil wir die Produktion zu 100 Prozent im Griff haben“, sagt Esslinger. "70 Prozent unserer Materialien kommen aus Deutschland, der Rest vorzugsweise aus Europa." Die kurze Lieferkette endet teilweise in unmittelbarer Nähe. „Unser Hauptspritzgusslieferant für das Fahrwerk muss nur einmal die Straße überqueren.“

Ortlieb und seine 285 Mitarbeiter haben nur eine Produktionsstätte für wasserdichtes Reisegepäck. Und zwar in Heilsbronn, einer kleinen Stadt in Mittelfranken. Viele der Produktionsmaschinen, etwa zum Hochfrequenzschweißen von Stoffnähten, hat Ortlieb sogar im eigenen Werkzeugbau konzipiert und gefertigt: „Wir machen alles im eigenen Haus – von der ersten Idee bis zur fertigen Tasche, die das Lager verlässt.“ sagt Esslinger.

Der heute 39-jährige Wirtschaftswissenschaftler startete 2016 als Vertriebsleiter; im Februar 2021 ernannte ihn der Gründer und alleinige Firmeninhaber Hartmut Ortlieb neben ihm und dem erfahrenen Jürgen Siegwarth zum dritten Geschäftsführer. Der Generationswechsel wird sichtbar eingeleitet. Esslinger steht für Kontinuität, aber auch für den Wunsch, die Marke stärker als bisher zu digitalisieren und zu internationalisieren.

„Hartmut Ortlieb ist unser Daniel Düsentrieb“, sagt Esslinger über den Gründer und Erfinder der ersten Stunde. "Es gibt keinen Morgen, an dem er nicht mit einer Idee aufwacht." Legendär wurde seine Radtour 1981 durch Südengland, als ein Regenguss seine gesamte Kleidung, einschließlich des Schlafsacks, in den Taschen, die er trug, durchnässte.

Vorbeieilende Trucks ließen ihn sich fragen, warum nicht eine wasserdichte Satteltasche aus dicker LKW-Plane hergestellt werden konnte. Zu Hause bat er seine Mutter um ihre Nähmaschine, eine Bernina-Platte, um die erste Kollektion anzufertigen - zunächst für den eigenen Gebrauch und seine Freunde.

Als immer mehr Leute anklopften, baute Ortlieb das Unternehmen als Abiturient auf. „Hartmut Ortlieb ist ein toller Autodidakt, ein Spezialist auf vielen Gebieten – und immer von der Idee getrieben“, charakterisiert Esslinger. Als Leiter Produktion und Entwicklung sei der Gründer noch immer „sehr präsent“.

Dabei bleiben Sie dem Grundgedanken stets treu: Robust, langlebig und wasserdicht muss es sein. Jedes der rund 500 Produkte erfüllt nun diese Anforderung. „Keep dry what you love“ ist der Markenclaim.

Alles, was auf einer Radtour, Bergwanderung oder auf dem Weg ins Büro vor Feuchtigkeit oder Staub geschützt werden muss, kommt in die Tasche. Auch das typische Verschlusssystem ist eine Erfindung von Ortlieb: Der Rollverschluss, der durch mehrmaliges Drehen des oberen Taschenrandes festhält. Heute ein oft kopierter Klassiker. „Unser Backroller, die Fahrradtasche für den Gepäckträger, ist fast schon ein Gattungsbegriff geworden – wie das Tempo Taschentuch“, sagt Esslinger.

Die hohe Popularität und Markenbekanntheit ist für Ortlieb fast schon zu einem Bumerang geworden: Denn die Amazon-Plattform hat sich des guten Namens bemächtigt und unter „Ortlieb Fahrradtaschen“ ungefragt Werbung bei Google gebucht – um Suchende dann komplett auf Trefferlisten umzuleiten verschiedene Taschen. Offensichtlich war Ortlieb damit nicht einverstanden - das Unternehmen reichte Klage ein.

„Wir schließen Amazon und andere allgemeine Plattformen als Vertriebskanäle bewusst aus, weil wir gezielt mit Fachhändlern kooperieren wollen“, erklärt Esslinger. Fünf Jahre dauerte das Verfahren, Ende 2019 entschied der BGH: Amazons Verhalten täuscht den Verbraucher – und ist verboten.

In einem zweiten Verfahren gegen Amazon wurde Ortlieb zunächst abgewiesen - "aber nur wegen eines Verfahrensfehlers", sagt Esslinger. Hier geht es darum, ob Amazon bei einer gezielten Suche nach Ortlieb laut Esslinger auf ein „Potpourri ausländischer Produkte“ verweisen darf oder nicht. "Wir kämpfen um unsere Markensouveränität, wir haben ein Rechtsgutachten, das uns stärkt - also wollen wir es nicht alleine lassen."

Am 22. Juli wird das Verfahren nach Zurückverweisung durch den BGH vor dem Oberlandesgericht München wieder aufgenommen. „Diese Prozesse haben uns einen sechsstelligen Betrag gekostet, aber es lohnt sich“, sagt Esslinger. „Wir verkaufen dadurch nicht messbar mehr Taschen, zeigen aber auch unseren Fachhändlern, dass wir es mit der Partnerschaft ernst meinen.“

Sollten einzelne Ortlieb-Taschen bei Amazon auftauchen, dann wäre das der „graue Markt“. Dem autorisierten Fachhandel ist es vertraglich untersagt, die Ware über den E-Commerce-Riesen zu verkaufen – weder direkt noch über Zwischenhändler.

„Wenn der After-Sales-Service das Alleinstellungsmerkmal eines Unternehmens ist, dann kann eine Plattform wie Amazon kein Vertriebskanal sein“, begründet Esslinger die Zurückhaltung. Ortlieb hat sich über Jahrzehnte mit einem unvergleichlichen Ersatzteil- und Reparaturservice einen Namen gemacht – so werden Käufer zu Fans. "Wenn jemand bei einer Radtour in der Mongolei ein Teil der Federung bricht, schicken wir das Ersatzteil ins Hotel - das ist unser Anspruch."

Minilöcher in der Tasche werden in Heilsbronn routinemäßig geflickt: Loch von innen flicken, einmal mit Heißluftföhn drüber, schweißen - fast wie neu. Wenn bei solchen Aktionen 30 Jahre alte Schätze auftauchen, die für das kleine Firmenmuseum schon Sammlerwert hätten, bieten sie manchmal einen Tausch gegen neue Ware. Doch viele Kunden winken ab: Sie haben unbezahlbare Reiseerinnerungen im Gepäck.

Martin Esslinger selbst hat seinen Job durch Reisen bekommen. Rucksackreisen durch Lateinamerika weckten sein Interesse an einem Wirtschaftsstudium in Trier und Tübingen mit diesem geografischen Schwerpunkt. Nach seiner Abschlussarbeit zum chilenischen Finanzsystem blieb er am Ball und beriet Finanzinstitute in Lateinamerika zu Mikrokrediten.

Bevor er sich bei Ortlieb bewarb, war Esslinger Exportleiter Südamerika beim Sportartikelhersteller Uhlsport. „Im Nachhinein passt und klingt das sehr stringent“, sagt Esslinger lachend. "Aber ich wollte nie wirklich in den Vertrieb gehen."

Wenn Sie die Natur lieben, ist die Natur und ihr Erhalt wichtiger als alles andere. „Nachhaltigkeit liegt in unserer DNA, Logo“, sagt Esslinger. Vor allem das Streben nach Langlebigkeit der Produkte trägt dem Nachhaltigkeitsgedanken bei Ortlieb Rechnung. Außerdem: „Wir wollen PVC in unserer Kollektion verstärkt ersetzen, zum Beispiel durch recycelbare Kunststoffe.“ Technischer Zustand: Jedes neu beschichtete Gewebe muss noch schweißbar sein, damit die Nähte wasserdicht sind.

„Die nächsten Jahre werden spannend“, sagt Esslinger mit Blick auf die Märkte und Wettbewerber, die in das boomende Fahrradsegment einsteigen. "Bisher sind wir nachhaltig vor uns gewachsen, aber im Corona-Jahr konnten wir die Nachfrage kaum bewältigen."

An Kurzarbeit musste Ortlieb nicht denken, sondern auf Dreischichtbetrieb umgestellt und seit März sogar samstags gearbeitet. „Das Thema urbane Mobilität gewinnt an Fahrt“, sagt Esslinger. Büropendler wollen ihre Laptops sicher und stilvoll in fahrradtauglichen Aktentaschen transportieren – ein riesiger Markt wartet.

Eine eigentlich perfekte Kundengruppe konnte er bisher jedoch nicht überzeugen: die Lieferdienste. Während klassische Fahrradkuriere oft mit der Ortlieb Messenger Bag anzutreffen sind, kommen die Wärmeboxen auf der Rückseite der Lebensmittellieferanten nicht aus Heilsbronn. „Es wäre schön, diese Branche auszustatten. Aber es gibt kein Qualitätsbewusstsein, der Mehrwert wird nicht gesehen, alles dreht sich um den Preis“, erklärt Esslinger. "Für uns hingegen ist der Preis das letzte Thema." Und bücken Sie sich für ein Geschäft, das es bei Ortlieb nicht gibt.

Mit einer neuen Markenkampagne bleibt der Taschenspezialist auf Kurs. Es geht um die Rückkehr zum Wesentlichen. Unterlegt mit beeindruckenden Naturbildern wirbt der Spot für Moral. Schaffen, nicht konsumieren! Entdecken und nicht nur Erwartungen erfüllen! Die eindringliche Botschaft fließt nahtlos in den Claim ein: "Keep dry what you love." Was würde er persönlich in den Ortlieb-Sack packen? „Meine beiden Jungs“, sagt Esslinger spontan – und muss lachen. "Nein, da ist keine Luft." Aber es zeigt, was ihn antreibt. „Meine Familie ist mein Anker. Sie ist das, was ich sicher und trocken aufbewahren würde. "

Hartmut Ortlieb gründete sein Unternehmen 1982 als Abiturient in Nürnberg. Der Geistesblitz – Satteltaschen aus LKW-Plane – kam ihm bei einer verregneten Radtour. Zuerst bediente er Kletterfreunde aus Franken mit den handgefertigten Teilen.

Als der örtliche Fahrradhändler auf die Innovation aufmerksam wurde und die Nähmaschine seiner Mutter nicht mehr ausreichte, entwickelte der Autodidakt Ortlieb eigene Produktionsverfahren und die dafür notwendigen Maschinen. Ortliebs Mutter war von Anfang an Mitarbeiterin.

1997 zog das Unternehmen mit 60 Mitarbeitern ins 30 Kilometer entfernte Heilsbronn um, wo heute 285 Mitarbeiter arbeiten. Neben Taschen fürs Fahrrad liefert Ortlieb Equipment für Trekkingtouren und Expeditionen, Motorradfahrer und Wassersportler, aber zunehmend auch für den Weg ins Büro oder Kurztrips. Deutschland, Europa und die USA sind die Hauptmärkte.

Konkrete Geschäftszahlen nennt der vorsichtige Inhaber Hartmut Ortlieb nicht. Der Umsatz wird auf einen „mittleren zweistelligen Millionenbetrag“ geschätzt. Im Corona-Jahr 2020, das dem Fahrrad zu neuer Popularität verhalf, wuchs das Geschäft nach Unternehmensangaben um mehr als die üblichen zehn Prozent.

Der Artikel erschien erstmals im Magazin Creditreform, das wie absatzwirtschaft in der Mediengruppe Handelsblatt erstellt wird.

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