Wiener Journal - Den Tieren abgeschaut - Wiener Zeitung Online

2021-12-27 18:01:16 By : Mr. Chen Zhidong

Autonomer, kollisionsfreier Autoverkehr? Dazu wird die Schwarmintelligenz der Fische untersucht.

Fliegen zu können wie ein Vogel – ein uralter Traum der Menschen. Schon in der griechischen Mythologie findet sich die Geschichte von Dädalus und seinem Sohn Ikarus, der, um der Gefangenschaft im Labyrinth des Minotaurus zu entfliehen, Flügel aus Vogelfedern, die mit Wachs auf einem Gestänge befestigt wurden, kreierte. Leider kam Ikarus aus lauter Übermut der Sonne zu nahe, das Wachs schmolz und der junge Mann stürzte ins Meer. Der Traum allerdings blieb…

Anfang des 16. Jahrhunderts widmete sich das italienische Universalgenie Leonardo da Vinci dem Studium des Fluges von Vögeln und Fledermäusen sowie der Anatomie der Flügel dieser Tiere, um dann aufgrund seiner Erkenntnisse Flugmaschinen zu konstruieren. Gemeinsam mit seinem Assistenten Tomaso Masini testete da Vinci sie an einem Berghang. Doch Masinis Muskelkraft reichte nicht, um den nötigen Auftrieb zu erzeugen, um sein Gewicht vom Boden zu heben, und er legte eine Bruchlandung hin; im Gegensatz zu Ikarus brach er sich dabei aber je nach Überlieferung nur ein Bein oder mehrere Rippen.

Heute fliegen wir tatsächlich, allerdings nicht mit künstlichen Flügeln an unseren Armen, sondern in tonnenschweren Flugzeugen. Die aufgedrehten Flügelspitzen, die sogenannten Winglets, sind den Handschwingen von Vögeln nachempfunden, die lange durch die Luft segeln können, also etwa Adler, Bussard, Storch oder Kondor: Sie erzeugen beim Gleiten mehrere kleinere Wirbel statt eines großen, das heißt der induzierte Luftwiderstand wird geringer und die Vögel verbrauchen weniger Energie – so wie die Flugzeuge mit diesem Zusatz am Flügelende. Flugzeugkonstrukteure haben die Winglets mittlerweile zu einem Schleifenprofil (split-wing loop oder Spiroid) weiterentwickelt, dieses ist jedoch noch im Versuchsstadium.

Flugzeuge sind wohl das bekannteste Beispiel für eine Wissenschaft, die trotz ihrer Ansätze bereits im 16. Jahrhundert ein sehr junges, interdisziplinäres Forschungsfeld ist: 1960 gab ihr der amerikanische Luftwaffenmajor Jack E. Steele auf einer Konferenz in Ohio erstmals einen Namen: "Bionics Symposium: Living Prototypes – The Key to New Technology". Steele, ein Neurologe im Militärdienst, leitete den Begriff aus dem griechischen Stamm "bios" (Leben) und dem Suffix "-onics" in der Bedeutung "Studium von" ab. Das deutsche Schachtelwort "Bionik" setzt sich aus Biologie und Technik zusammen. Heute ist Bionik vor allem ein Begriff für das Suchen von Lösungen für technische Probleme in der belebten Natur. Der deutsche Zoologe und Begründer der Bionik in Deutschland, Werner Nachtigall, definiert in seinem Buch "Vorbild Natur" (Springer-Verlag, 161 Seiten, 46,26 Euro) Bionik folgendermaßen: "Lernen von der Natur als Anregung für eigenständig-technisches Gestalten". Grundlage dafür ist für ihn die technische Biologie, also "die Natur zu erforschen und zu beschreiben aus dem Blickwinkel und mit dem methodischen Verfahren der technischen Physik und verwandter Gebiete". Schließlich sei es nicht möglich, etwas anzuwenden, was man vorher nicht erforscht hat.

Biomimikry, Biomimetik oder Biomimese dagegen betrachtet meist ganze Systeme, um komplexe Herausforderungen unserer Zeit zu bewältigen, egal ob struktureller, organisatorischer oder gesellschaftlicher Art. Ein Beispiel ist der Verkehr: Hier werden die Bewegungsmuster von Fisch- oder Vogelschwärmen analysiert, um Konzepte für einen autonomen, kollisionsfrei ablaufenden Autoverkehr zu entwickeln. Diese Schwarmintelligenz lässt sich vor allem bei Fischen beobachten, die selbst bei raschen Bewegungen auf engstem Raum nicht zusammenstoßen. Verantwortlich dafür ist das sogenannte Seitenlinienorgan, ein Hautsinnesorgan, das der Außenwahrnehmung im Wasser dient und auch als Ferntastsinn bezeichnet wird.

Auch Wanderheuschrecken zeigen Schwarmintelligenz: So können einzelne Individuen in Schwärmen mit bis zu zehn Millionen Insekten Hindernissen ausweichen, ohne dabei zu kollidieren. Forscher vom Institut für Biologie an der Universität Graz untersuchten die visuellen Fähigkeiten dieser Tiere, die ihren reibungslosen Flug ermöglichen. Die Erkenntnisse sollen helfen, dass Drohnenkameras mögliche Hindernisse besser erkennen und die Drohne somit ausweichen kann. Sollten also demnächst wirklich Drohnen Pakete liefern, wäre es ja nicht schlecht, wenn diese heil und ganz beim Empfänger ankommen…

Termitenhügel und ihr ausgeklügeltes Belüftungssystem sind das Vorbild für das Eastgate Center in Harare.

Das geniale Lüftungssystem in Termitenbauten diente erstmals 1991 als technisch-architektonisches Vorbild: Der Architekt Mick Pearce wollte das Eastgate Center, ein Einkaufs- und Bürozentrum in Harare, Zimbabwe, als Gebäude entwerfen, das sich selbst kühlt. Die bis zu sieben Meter hohen Termitenbauten besitzen unzählige kleine Löcher auf ihrer Oberfläche, die für ständigen Luftaustausch sorgen. Pearce baute im Eastgate Center ebenfalls überall viele kleine Luftschächte und zentral mehrere große Schornsteine ein und weil warme Luft aufgrund ihrer geringeren Dichte aufsteigt, wodurch kalte Luft aus dem unteren Bereich des Gebäudes nachgesaugt wird, sorgt dieses System für eine natürliche Kühlung des Gebäudes.

Schnell schwimmen zu können ist nicht nur eine Frage von Körperform und Kraft: Schnell schwimmende Hai-Arten haben eine ganz besondere Hautoberfläche – sie besteht aus kleinen, dicht aneinander liegenden Schuppen, auf denen sich scharfkantige Rillen befinden, die parallel zur Strömung ausgerichtet sind. Und genau das vermindert den Reibungswiderstand im Wasser. Erste Schlussfolgerung: Was Haien hilft, schneller zu schwimmen, kann auch Menschen helfen, schneller zu schwimmen. Die Firma Speedo entwickelte daraufhin den "Fastskin"-Schwimmanzug nach dem Prinzip der Haihaut – in den folgenden Jahren regnete es Goldmedaillen und Weltrekorde.

Zweite Schlussfolgerung: Was im Wasser funktioniert, passt auch in Sachen Luftwiderstand – heute werden Flugzeuge mit sogenannten Riblet-Folien beklebt, deren Oberfläche der Haut eines Hais nachempfunden ist und die damit den Luftwiderstand des Flugzeuges senken – ein zusätzliches Asset zu den Winglets.

Und noch einmal Schuppen als Ideengeber, nämlich die des Sandfisches. Der ist zwar kein Fisch, sondern eine Eidechse, und schwimmen kann er auch nicht, er lebt nämlich im Wüstensand. Doch weil er mit schwimmenden Bewegungen durch selbigen gleitet, hat man ihm diesen Namen gegeben. Diese Art der Fortbewegung ermöglichen ihm seine Schuppen, die einerseits für eine sehr geringe Reibung sorgen und andererseits extrem abriebfest sind. Sie bestehen aus Keratin, das von einer besonders widerstandsfähigen Zuckerschicht überzogen ist. Deren Eigenschaften wollen Forscher vom Institut für Medizin- und Biomechatronik der Universität Linz noch genauer untersuchen, um sie für Beschichtungen von Kunststoffen, Autolacken oder Solarpaneelen zu nutzen.

Schuppen scheinen überhaupt unerschöpfliche Ideengeber zu sein. Die Linzer Forscher haben nämlich herausgefunden, dass die Schuppen der Texanischen Krötenechse, der australischen Dornteufel und der arabischen Krötenechsen Feuchtigkeit anziehen – was Sinn macht, wenn man in sehr trockenen Gebieten lebt. Fällt ein Wassertropfen auf die Haut dieser Tiere, zerstäubt er nicht, sondern wird in haarfeine Kanäle zwischen den Schuppen abgeleitet und in Richtung Mund transportiert. Für Menschen könnte dieses System etwa bei Wundverbänden oder Windeln zum Einsatz kommen, um Flüssigkeit vom Körper wegzuleiten.

Beine, Barthaare, Körperhülle

Am Robbenforschungszentrum in Rostock-Warnemünde widmen sich Wissenschafter unter anderem den Barthaaren der Robben. Jede der bis zu zehn Zentimeter langen Vibrissen ist durch ein nervenreiches Follikel in der Haut verankert. Mithilfe dieses Sinnesorgans können Seehunde im Wasser kleinste Strömungsänderungen, sogenannte hydrodynamische Spuren, wahrnehmen und so selbst über große Distanzen die Spuren von Fischen verfolgen. Das ist nur durch die spezielle Wellenform der Haare möglich. Die Wellenstruktur verhindert, dass die Vibrissen beim Schwimmen nach hinten gebogen werden oder zu flattern beginnen, sondern es wird eine Wasserbewegung entlang des Haaransatzes erzeugt, was Wirbelabrisse direkt am Haar verhindert. Diese Eigenschaften der Robben-Barthaare sollen bei der Entwicklung technischer Sensoren in der Unterwasser-Robotik umgesetzt werden: So müssten etwa Unterwasserfahrzeuge nicht mehr programmiert werden, welchen Weg sie nehmen sollen, sondern sie könnten aufgrund der Erfassung und Verarbeitung bestimmter Umweltinformationen selbständig ihren Weg finden.

Welcher Autofahrer ist nicht begeistert, wenn sein Fahrzeug in einer engen Kurve die Spur hält – zu verdanken hat er das unter anderem guten Reifen. Deren Haftungseigenschaften sind Katzenpfoten nachempfunden: Die verbreitern sich nämlich bei Richtungswechseln, und mit dieser vergrößerten Auflagefläche verringert sich die Gefahr des Wegrutschens. Die Anordnung der Ballen und deren Struktur ist ebenfalls in die Konstruktion von Autoreifen und deren Profil eingeflossen.

Hector ist einen Meter lang, seine Beine sind mit 18 elastischen Antrieben ausgestattet und er hat zahlreiche Sensoren, mit denen er sich und die Umwelt wahrnimmt. Vorbild: die Stabheuschrecke.

Mitunter sind Reifen aber nicht das beste Mittel der Wahl: Sehr unebenes, steiniges Gelände lässt oft selbst den ausgefeiltesten Geländewagen versagen. Für Sechs- oder Achtbeiner, die ihre Gliedmaßen unabhängig voneinander bewegen können, ist das allerdings kein Problem. Für die Umsetzung dieser Art von Fortbewegung auf Roboter dienen Beine und Regelwerk der Stabheuschrecke als Vorbild. Denn schließlich geht es nicht nur um Form und Anordnung, sondern vor allem um das hochkomplexe, schnelle Regeln und Steuern der Beine – und zwar unabhängig voneinander und trotzdem in ständiger Koordination. Eine echte Herausforderung…

Zum Schluss erweisen wir noch einem winzigen Tier, dem Pantoffeltierchen, die Ehre: Der Einzeller scheint sich überhaupt nicht dafür zu interessieren, ob es auf seinem Weg Hindernisse gibt, um die er herumschwimmen sollte – er schwimmt einfach gegen alles. Dass weder er noch seine Umwelt Schaden nehmen, liegt an seinem weichen, elastischen Körper. Der diente Wissenschaftern des Bionik-Innovations-Centrums (B-I-C) an der Hochschule Bremen – City University of Applied Sciences als Vorbild für ein besonderes Exoskelett für eine autonomes Unterwasser-Drohne, die nun in einer Sonderausgabe von "Frontiers in Neurorobotics" vorgestellt wurde. Das multifunktionale, weiche Exoskelett aus dem 3D-Drucker wirkt wie ein Stoßdämpfer, deshalb kann die Drohne in der Nähe von Tauchern und empfindlichen Umgebungen arbeiten, ohne jemanden oder etwas oder sich selbst zu gefährden.

In gleichem Maß wie die Tier- bietet natürlich auch die Pflanzenwelt Vorbilder für technische Entwicklungen, wie etwa der Lotus-Effekt für Oberflächen oder die Klette für den Klettverschluss. Doch das ist eine andere Geschichte…